Das Bundessozialgericht hat in einer lang erwarteten Entscheidung vom 19.09.2019, die bislang nur in einer Pressemitteilung vorliegt ( https://www.bsg.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2019/2019_41.html ), dass weder die „Kopf-und-Seele“-Rechtsprechung einzelner Senate des Bundessozialgerichts noch Betriebsprüfungen, die mangels Beanstandungen ohne Bescheid beendet wurden, Vertrauensschutz vermitteln würden. Hier haben einige Instanzgerichte, so auch das SG Würzburg, noch anders entschieden. Das BSG hat keine grundlegende Änderung einer Rechtsprechung anderer Senate erkannt. Die entsprechenden Entscheidungen „seien spezifische Einzelfälle“ und damit keine ständige Rechtsprechung. Dies hat zur Folge, dass die Deutsche Rentenversicherung im Rahmen von Betriebsprüfungen auch rückwirkend Beiträge von betroffenen Unternehmen einfordern kann.

Hintergrund: im Jahr 2015 hat das Bundessozialgericht entschieden, dass es auch in Familiengesellschaften alleine auf die konkrete Gestaltung in den Gesellschaftsverträgen ankomme. Eine bisher angenommene unternehmerische Stellung allein aufgrund eines familiären Näheverhältnisses („Kopf- und-Seele-Rechtsprechung“) sei nicht ausreichend. Maßgeblich sei allein die aufgrund der Satzung oder des Gesellschaftsvertrags einer Gesellschaft verliehene Rechtsmacht. Eine tatsächliche Rücksichtnahme oder Verabredungen, die keinen Niederschlag in die Verträge gefunden habe, genüge nicht. diese Rechtsprechung hat die DRV zum Anlass genommen, auch für Zeiten vor dem Jahr 2015 Sozialversicherungsbeiträge für Gesellschaftergeschäftsführer in Familiengesellschaften nachzufordern, teilweise Beträge im sechsstelligen Bereich. Die Betroffenen haben sich – wie nun herausgestellt hat, vergeblich – darauf berufen, dass sie der bisherigen Rechtslage vertraut haben und dieses Vertrauen schutzwürdig gewesen sei.

Stellungnahme: Die Entscheidung des Bundessozialgerichts überzeugt nicht. Denn gleich, ob es eine „ständige Rechtsprechung“ im formellen Sinne gab oder nicht: bis 2015 war es völlig unstreitig, dass Familienbetriebe anders „ticken“ als Gesellschaften mit externem Management. Auch die Deutsche Rentenversicherung hat in ihren Prüfungen aufgrund interner Richtlinien diese Konstellationen bis 2015 stets als versicherungsfreie Rechtsverhältnisse angenommen. Erst durch die Rechtsprechung 2015 hat sich diese Ansicht grundsätzlich verändert. Die neue Rechtsprechung des Bundessozialgerichts aus 2015 ist zwar durchaus zu begrüßen, da hierdurch klare Verhältnisse geschaffen werden. Die jetzt getroffene Entscheidung allerdings trifft auch Familiengesellschaften schwer, die sich bisher absolut rechtstreu verhalten haben. Wer bis 2015 auf die allgemeine Rechtsauffassung vertraut hat und erst im Zuge der geänderten Auffassung 2015 zeitnah seine Gesellschaftsverträge angepasst hat, kann dennoch rückwirkend zur Kasse gebeten werden. Nach Art. 20 GG ist es dem Gesetzgeber verboten, zulasten seiner Bürgerinnen und Bürger rückwirkend einzugreifen. Wenn das Grundgesetz dies allerdings dem Gesetzgeber schon verbietet, so muss dies nach unserer Auffassung erst recht auch für die den Gesetzen unterworfene Justiz und Verwaltung gelten. Nach unserer Überzeugung durfte das Bundessozialgericht nicht über diese Tatsache hinweg sehen.

Praxishinweis: Wenn es noch nicht getan hat sollte es jetzt tun: Unbedingt sollten die betrieblichen Verhältnisse an die im Jahr 2015 geänderte Rechtsprechung des BSG angepasst werden. Was die Rückwirkung angeht, so bleibt nur zu hoffen, dass die Verjährung, hier vier Jahre, eintritt. Ansonsten ist es der deutschen Rentenversicherung übernommen, bis zur Grenze dieser Verjährung Sozialversicherungsbeiträge für Gesellschaftergeschäftsführer in Familiengesellschaften nachzufordern. Im Einzelfall kann es sich hierbei um sechsstellige Beträge handelt.

Ausblick: Zumindest einen positiven Aspekt scheint dieses Urteil zu haben: das BSG verpflichtet die DRV zukünftig bei Betriebsprüfungen einen Verwaltungsakt zu erlassen, der ausdrücklich die geprüften Fälle benennt und sich nicht auf die Feststellung beschränkt, die „stichprobenartige“ Prüfung sei ohne Beanstandungen geblieben. Bisher fiel der Nachweis schwer, bzw. war unmöglich, in einem Gerichtsverfahren darzulegen, dass der konkrete Fall bereits geprüft wurde, nicht beanstandet worden ist und daher Vertrauensschutz bewirkt. Das wiederum bedeutet, dass für die Zukunft auch Sicherheit bestehen dürfte, in welchen Fällen man zukünftig „beruhigter schlafen“ kann.

Das Sozialgericht Würzburg hat in einer wichtigen ersten Entscheidung (Gerichtsbescheid vom 14.03.2018, Aktenzeichen S 5 R 829/17) unsere Auffassung bestätigt, dass das Verbot der Rückwirkung auch für die Änderung von Rechtsprechung gilt, wenn sich die Unternehmen auf den Bestand der bisherigen Rechtsprechung verlassen durften.

Hintergrund:

Bei der Prüfung des sozialversicherungsrechtlichen Status des Geschäftsführers von Famili­engesellschaften wurden nach alter Rechtsprechung neben der Höhe der Kapitalbeteiligung des geschäftsführenden GmbH-Gesellschafters stets auch geprüft, ob er die Geschäfte der GmbH faktisch wie ein Eigentümer führen und „schalten und walten“ konnte wie er wollte; er „Kopf und Seele“ des Unternehmens war (BSG v. 23.6.1994 – 12 RK 72/92, GmbHR 1995, 224 und dazu BSG v. 29.7.2015 – B 12 KR 23/13 R, NZA 2016, 469).

Selbst die Spitzenverbände der Sozialversicherungsträger vertraten die Auffassung, dass bei Familien-GmbHs oder in Gesellschaften, in denen familienhafte Bindungen zu Mehrheitsgesellschaftern bestanden, die Verhältnisse durchaus dafür sprechen könnten, dass für einen Geschäftsführer ohne Kapitalbeteiligung kein Beschäftigungsverhältnis vorliegt (Rundschreiben v. 26.3.2003, Anl. 3 S. 3, Die Beiträge 2003, 458).

Am 11.11.2015 hat das BSG dann in mehreren Entscheidungen diese Rechtsprechung vollständig aufgegeben und ausschließlich auf die Regelungen im Gesellschaftsvertrag abgestellt (BSG v. 11.11.2015 – B 12 R 2/14 R, GmbHR 2016, 537; B 12 KR 13/14 R, GmbHR 2016, 528 und B 12 KR 10/14 R, GmbHR 2016, 533).

Dies nahm die DRV zum Anlass, im Rahmen von Betriebsprüfungen Sozialversicherungsbeiträge für Geschäftsführer auch für die Vergangenheit nachzufordern. In der Praxis gingen die Prüfer bis zur Grenze der Verjährung zurück.

Sachverhalt der Entscheidung:

In dem entschiedenen Fall ging es um eine Beitragsnachforderung für die Jahre 2012-2015 in einem klassischen Familienbetrieb, in dem der Vater (und Gründer der Unternehmensgruppe) in einer Tochtergesellschaft Geschäftsführer war, ohne hier über Gesellschaftsanteile zu verfügen; die Gesellschaftsanteile an den einzelnen Firmen der Gruppe hat er in den letzten Jahren schrittweise auf seine Kinder übertragen. Die DRV zog die im Jahr 2015 geänderte Rechtsprechung heran und stellte fest, dass auf dieser Grundlage nicht mehr von einer selbstständigen, sondern von einer versicherungspflichtigen Beschäftigung auszugehen sei und forderte für den Prüfungszeitraum rund 55.000 € an Beiträgen für den Vater nach.

Entscheidung des SG Würzburg:

Das Sozialgericht Würzburg hat unserer Klage in vollem Umfang stattgegeben und ist unserer Argumentation gefolgt. Zwar könne im vorliegenden Fall der Vater auf der Grundlage der geänderten Rechtsprechung richtigerweise nur als abhängig Beschäftigter bewertet werden, mit der Folge, dass grundsätzlich Sozialversicherungsbeiträge zu leisten seien; allerdings habe die DRV den Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes nicht berücksichtigt, der Beitragsbescheid sei daher rechtswidrig und aufzuheben. Auch im Beitragsrecht der Sozialversicherung erfordere Treu und Glauben, dass die Beitragspflichtigen nicht für eine zurückliegende Zeit mit einer Beitragsnachforderung überrascht werden, die zu dem vorausgegangenen Verhalten der Verwaltung, aber auch zur bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung in Widerspruch stehe, auf dessen Rechtmäßigkeit sie vertraut hatten und vertrauen durften.

Dieser Vertrauensschutz gelte solange, bis die geänderte Rechtsprechung an denjenigen bekannt gegeben werde, der von ihr betroffen sei. Dies sei im vorliegenden Fall die Anhörung im Prüfverfahren Ende 2016 gewesen und nicht bereits die Veröffentlichung der Entscheidung des BSG Ende 2015.

Praxishinweis:

Diese Entscheidung ist zu begrüßen, da sie betont, dass man sich als Unternehmen auf die jeweils geltende Rechtslage, einschließlich der Rechtsprechung verlassen darf und nicht später noch mit bösen Überraschungen rechnen muss. Sie schafft Rechtssicherheit für die Vergangenheit. Diese Entscheidung bedeutet aber keine (erneute) Änderung der Rechtsprechung des BSG: Die „Kopf und Seele“ – Rechtsprechung ist Geschichte. Familienunternehmen sollten sich daher unbedingt und zeitnah mit diesem Problem auseinandersetzen und ggfl. den Gesellschaftsvertrag anpassen.

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