Sachverhalt

Die Parteien streiten vor dem 5. Senat des BAG noch über Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und dabei insbesondere über den Beweiswert der vom Kläger eingereichten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.

Dem geht folgender Sachverhalt voraus: Der Kläger war in der Zeit vom 16.01.2020 bis 30.09.2020 bei der Beklagten, die Personalvermittlung und -verleih betreibt, als technischer Sachbearbeiter beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis endete aufgrund Kündigung der Beklagten vom 01.09.2020, dem Kläger zugegangen am 02.09.2020 zum 30.09.2020. Unstreitig hat der Kläger nach Ausspruch der Kündigung noch bis zum 04.09.2020 für die Beklagte in einem Entleihbetrieb gearbeitet. Für den Zeitraum vom 07.09.2020 bis zum 30.09.2020 legte der Kläger insgesamt zwei Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AUB) über den Bestand bzw. Fortbestand seiner Arbeitsunfähigkeit vor; eine Erstbescheinigung vom 07.09.2020 bis 20.09.2020 und eine Folgebescheinigung vom 21.09.2020 bis zum 30.09.2020.

Die Beklagte zahlte für den September 2020 weder Arbeitsvergütung noch Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und begründete dies damit, dass der Beweiswert der für die Zeit ab 07.09.2020 vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert sei. Die vorgelegten AUB’s seien durch den ausstellenden Arzt nicht entsprechend der Vorgaben der „Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie“ ausgestellt worden. Ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall bestehe daher nicht. Im Laufe des Verfahrens legte der Kläger unaufgefordert die jeweilige Ausfertigung der AUB zur Akte, aus welcher die arbeitsunfähigkeitsbegründenden Diagnosen zu entnehmen sind. Diese Ausfertigung verbleibt aufgrund der sensiblen und höchstpersönlichen (Gesundheits-)Daten in aller Regel bei dem jeweils Versicherten.

Entscheidung

Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht gaben der Klage statt. Die hiergegen durch die Beklagte eingelegte Revision wurde durch das BAG zurückgewiesen. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) hat ein Arbeitnehmer für Zeiten der Arbeitsunfähigkeit bis zu einer Dauer von sechs Wochen Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber, wenn er durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert ist, ohne dass ihn ein Verschulden trifft.

Da der hierin enthaltene Anspruch auf Entgeltfortzahlung für den Arbeitnehmer günstig ist, trägt dieser nach allgemeinen Grundsätzen die Darlegungs- und Beweislast für die Anspruchsvoraussetzungen des § 3 Abs.1 Satz 1 EFZG. Dieser Beweis wird in aller Regel durch die Vorlage einer ärztlichen AUB iSd § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG geführt. Dem ist der Kläger nach Ansicht des BAG hinreichend nachgekommen. Auch der Vortrag der Beklagten und der von dieser gerügte Verstoß gegen einzelne Vorgaben der „Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie“ waren nicht dazu geeignet, den Beweiswert der durch den Kläger vorgelegten AUB’s zu erschüttern.

Praxishinweis

Die Frage der Beweiskraft einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist regelmäßig Thema im Arbeitsrecht. Das Urteil enthält hier wenig neues, trotzdem sollten die Grundsätze im Zusammenhang mit Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen immer mal wieder ins Gedächtnis gerufen werden, um hier einen sicheren Umgang zu erzielen.

Sofern nicht durch Gesetz eine bestimmte Beweislastverteilung vorgesehen ist, muss grundsätzlich derjenige, der sich auf eine ihm günstigere Norm beruft, das Vorliegen deren Voraussetzungen darlegen und diese im Streitfall beweisen. Macht also ein erkrankter Arbeitnehmer im Krankheitsfall Entgeltfortzahlung geltend und beruft sich demnach auf die für ihn günstige Norm des § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG, muss er seine Arbeitsunfähigkeit gegenüber seinem Arbeitgeber nach- bzw. beweisen. In aller Regel erbringt er diesen Nachweis durch die Vorlage eines ärztlichen Attests, der sog. Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Da dieser Bescheinigung kein absoluter Beweiswert zukommt, kann dieser seitens des Arbeitgebers erschüttert werden sofern begründete Zweifel am Vorliegen der Arbeitsunfähigkeit bestehen. Es ist dann Aufgabe des Arbeitgebers die zur Erschütterung des Beweiswerts führenden Umstände substantiiert aufzuzeigen und Tatsachen vorzutragen, aus denen sich ernsthafte Zweifel an der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit ergeben. Beispielhaft sind insbesondere folgende Punkte anzuführen:

  • Der Arbeitnehmer zeigt ein Verhalten, welches im Widerspruch zu einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit steht.
  • Der Arbeitnehmer kündigt sein „Fernbleiben“ nach einer Auseinandersetzung mit dem Arbeitgeber oder einer verwehrten Urlaubsgewährung für konkreten Zeitraum an und ist in diesem auch krank „sog. Krankfeiern“.
  • Der Arbeitnehmer meldet sich zusammen mit dem Ausspruch einer Eigenkündigung krank; Krankmeldung erfolgt passgenau für die verbleibende Kündigungsfrist.
  • Die Ausstellung einer ärztlichen Bescheinigung durch den Arzt erfolgt ohne vorhergehende Untersuchung des Arbeitnehmers.
  • Der Arbeitnehmer ist häufig um Urlaub oder Feiertage krank.

Auch wenn in den vorgenannten Beispielen regelmäßig von einer Erschütterung des Beweiswertes ausgegangen werden kann, kommt man in der Praxis trotzdem nicht umher eine rechtliche Betrachtung des konkreten Einzelfalles unter Würdigung der Gesamtumstände vorzunehmen. Im Verdachtsfall haben Arbeitgeber daher sorgfältig zu prüfen, ob Tatsachen vorliegen, die dazu geeignet sind, die Beweiswirkung der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern.

In zahlreichen Bescheiden der Regierung von Unterfranken in den letzten Wochen über Entschädigungsansprüche nach § 56 Infektionsschutzgesetz wurde eine Entschädigung für Verdienstausfall erst ab dem fünften Quarantänetag bewilligt. Für die ersten vier Tage sei kein Entschädigungsanspruch gegeben, weil der Arbeitgeber Entgeltfortzahlung nach § 616 BGB zu leisten habe. Nach unserer Überzeugung ist diese Rechtsauffassung der Regierung von Unterfranken rechtswidrig. Eine Klage gegen die Bescheide wird dringend empfohlen.

Hintergrund:

Nach § 56 Abs. 1 IfSG erhält eine Entschädigung in Geld, wer auf Grund dieses Gesetzes als Ausscheider, Ansteckungsverdächtiger, Krankheitsverdächtiger oder als sonstiger Träger von Krankheitserregern im Sinne von § 31 Satz 2 IfSG Verboten in der Ausübung seiner bisherigen Erwerbstätigkeit unterliegt oder unterworfen wird und dadurch einen Verdienstausfall erleidet (= angeordnete Quarantäne). Bei Arbeitnehmern hat der Arbeitgeber für die Dauer des Arbeitsverhältnisses, längstens für sechs Wochen, die Entschädigung für die zuständige Behörde auszuzahlen. Die ausgezahlten Beträge werden dem Arbeitgeber auf Antrag von der zuständigen Behörde erstattet. Einen solchen Anspruch gibt es für Personen, die im Zuge einer Schließung der Schule oder der Kita ihre minderjährigen Kinder zu betreuen haben und deshalb einer Erwerbstätigkeit nicht nachgehen können.

Entscheidend ist hier die Voraussetzung „und dadurch einen Verdienstausfall erleidet“. Wer keinen Verdienstausfall hat, weil er aufgrund anderer Voraussetzungen, z.B. Arbeitszeitkonto, Urlaub o. ä., Entgelt bekommt, erhält selbstverständlich keine Entschädigung, da keine Verluste entstehen.

Die Regierung von Unterfranken hat nun § 616 BGB für sich entdeckt. Diese altehrwürdige Vorschrift, die aktuelle Fassung entspricht der Urfassung von 1896, lautet wie folgt: “ Der zur Dienstleistung Verpflichtete wird des Anspruchs auf die Vergütung nicht dadurch verlustig, dass er für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit durch einen in seiner Person liegenden Grund ohne sein Verschulden an der Dienstleistung verhindert wird. “ Diese Vorschrift hat zu ihrem Beginn die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall geregelt, die nunmehr im Entgeltfortzahlungsgesetz festgeschrieben ist. Trotzdem hat diese Vorschrift heute noch eine Bedeutung, nämlich bei Arbeitsverhinderung ohne Krankheit. Das ist bei einer Quarantäne auch grundsätzlich der Fall.

Fehlerhafte Rechtsanwendung

Die Regierung von Unterfranken kommt aber nun auf den Gedanken, diese Vorschrift pauschal für vier Tage heranzuziehen und verkennt hierbei die tatsächliche Bedeutung dieser Vorschrift. Denn eine wesentliche Voraussetzung für den Erhalt des Vergütungsanspruchs, nicht nur für seine Begrenzung (BAG [GS] 18.12.1959 AP BGB § 616 Nr. 22), ist die Verhinderung für einen unerheblichen Zeitraum. Dauert die Verhinderung also länger an, so entfällt ein Anspruch vollständig (ErfK/Preis, 20. Aufl. 2020, BGB § 616 Rn. 10a). Die herrschende Meinung und die Rechtsprechung gehen – ohne eine feste Höchstdauer zu definieren – einhellig davon aus, dass eine Verhinderung von nur wenigen Tagen nicht erheblich ist, das sind i.d.R. 4 – 5 Tage, dauert die Verhinderung aber länger als nur wenige Tage, ist von einem erheblichen Zeitraum auszugehen.

Das sieht offenbar auch die Regierung von Unterfranken so, indem sie für die ersten vier Tage der Quarantäne einen Entgeltfortzahlungsanspruch nach § 616 BGB annimmt.

Die Regierung von Unterfranken verkennt allerdings die absolut unbestrittene herrschende Meinung, nach der der Anspruch auf Entgeltfortzahlung für den gesamten Zeitraum entfällt, wenn der Zeitraum der Verhinderung insgesamt erheblich ist. Bei einer Anordnung einer Quarantäne, die üblicherweise 14 Tage dauert, ist aber von einem erheblichen Zeitraum auszugehen. Dabei entfällt der Entgeltfortzahlungsanspruch für den Arbeitnehmer also für den gesamten Zeitraum und nicht erst ab dem fünften Tag. Bei § 616 BGB gilt also das Prinzip „ganz oder gar nicht“. Die Rechtsauffassung der Regierung von Unterfranken ist daher nicht haltbar.

Fazit:

ArbeitnehmerInnen, die durch das zuständige Gesundheitsamt unter Quarantäne gestellt werden, haben daher einen Anspruch auf Erstattung ihrer Vergütung für die gesamte Dauer der Quarantäne. Die gegenteilige Auffassung der Regierung von Unterfranken ist falsch. Da der Arbeitgeber jedoch als Auszahlungsstelle der Behörden dient, kann es dem Arbeitnehmer letztendlich egal sein, da er das Geld in dieser Zeit erhält– von wem auch immer. Der Arbeitgeber hat aber selbst die Möglichkeit, seinen Erstattungsanspruch gerichtlich geltend zu machen, da er ja auf den Kosten sitzen bleiben würde. Hierzu ist dringend zu raten. Gerne stehen wir Ihnen hier zur Verfügung.

In unseren Verträgen empfehlen wir grundsätzlich, die Anwendung des § 616 BGB auszuschließen. Das ist rechtlich möglich und vermeidet, wie im vorliegenden Fall, unnötigen Ärger. Das anerkennt auch die Regierung von Unterfranken.

Wird der Arbeitnehmer durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert, hat der Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber einen Anspruch gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG auf Entgeltfortzahlung für die Dauer von bis zu sechs Wochen.

Bei einer erneuten Arbeitsunfähigkeit „infolge derselben Krankheit“ entsteht der Entgeltfortzahlungsanspruch erst nach einer bestimmten Wartezeit neu (§ 3 Abs. 1 Satz 2 EFZG).

Schon seit jeher hatte das BAG in Anlehnung an die Rechtsprechung des BSG zum Krankengeld die Auffassung vertreten, dass von „derselben Krankheit“ auch dann auszugehen sei, wenn der Arbeitnehmer während einer attestierten Arbeitsunfähigkeit aus anderer Ursache erkrankt und damit länger arbeitsunfähig bleibt (sog. „Einheit des Verhinderungsfalls“).

Beispiel:

Vom 1.6. bis 28.6. ist Arbeitnehmer aufgrund einer Mandelentzündung arbeitsunfähig erkrankt.

Am 26.6. (also während der bestehenden Mandelentzündung) erleidet der Arbeitnehmer beim Treppensteigen ein Kreuzbandriss und ist infolgedessen arbeitsunfähig bis 30.9.

= Einheit des Verhinderungsfalls, trotz zwei unterschiedlicher Erkrankungen nur einmal Entgeltfortzahlung für sechs Wochen und zwar beginnend mit der ersten Erkrankung, also 1.6. bis 12.7.

Diese einschränkende Rechtsprechung lief bisher in vielen Fällen leer. Denn nach bisheriger Rechtsprechung war es für die Annahme einer Neuerkrankung und somit der Begründung eines neuen sechswöchigen Entgeltfortzahlungsanspruchs ausreichend, dass der Arbeitnehmer zwischen dem Ende der ersten Arbeitsunfähigkeit und dem Beginn der erneuten Arbeitsunfähigkeit für wenige Stunden genesen war, und zwar selbst dann, wenn diese außerhalb der Arbeitszeit lagen (so explizit BAG, Urt. vom 25.5.2016 – 5 AZR 318/15, NZA 2016, 1076 Rn. 12). Vereinfacht ausgedrückt: Eine Einheit des Verhinderungsfalls konnte in der Praxis letztlich nur dann angenommen werden, wenn sich die letzte Folge-AU-Bescheinigung für die erste Erkrankung und die Erstbescheinigung für die neue Erkrankung zumindest in einem Tag überschnitten.

Beispiel:

Arbeitnehmerin ist arbeitsunfähig infolge Rückenbeschwerden für sechs Wochen, wobei der Sechs-Wochen-Zeitraum an einem Freitag endet.  Samstag und Sonntag arbeitsfrei, Sonntagnachmittag beim Fußball zieht sich Arbeitnehmer einen Kreuzbandriss zu = keine Einheit des Verhinderungsfalls, Arbeitnehmer erwirbt wegen dieser neuen Erkrankung einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung für sechs Wochen.

Von dieser Rechtsprechung ist das Bundesarbeitsgericht in seinem Urteil vom 11.12.2019 – 5 AZR 505/18 nun zu Gunsten der Arbeitgeber abgerückt. Der zweite Leitsatz dieses Urteils lautet wie folgt:

Ein einheitlicher Verhinderungsfall ist regelmäßig hinreichend indiziert, wenn zwischen einer „ersten“ krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit und einer dem Arbeitnehmer im Wege der „Erstbescheinigung“ attestierten weiteren Arbeitsunfähigkeit ein enger zeitlicher Zusammenhang besteht. Hiervon ist auszugehen, wenn die bescheinigten Arbeitsverhinderungen zeitlich entweder unmittelbar aufeinanderfolgen oder zwischen ihnen lediglich ein für den erkrankten Arbeitnehmer arbeitsfreier Tag oder ein arbeitsfreies Wochenende liegt.

Zu dieser Rechtsprechungsänderung sah sich das Bundesarbeitsgericht veranlasst, da „der Arbeitgeber in aller Regel keine Kenntnis von den Krankheitsursachen hat und kaum in der Lage ist, belastbare Indiztatsachen für das Vorliegen eines einheitlichen Verhinderungsfalls vorzutragen.“

Wenn die ärztlich bescheinigten Arbeitsverhinderungen zeitlich entweder unmittelbar aufeinanderfolgen oder zwischen ihnen lediglich ein für den erkrankten Arbeitnehmer arbeitsfreier Tag oder ein arbeitsfreies Wochenende liegt, „ist es dem Arbeitgeber angesichts fehlender zwischenzeitlicher Arbeitsverpflichtung des Arbeitnehmers nahezu unmöglich, konkrete Anhaltspunkte zur Erschütterung des Beweiswerts der ärztlichen Bescheinigungen vorzutragen. Es ist deshalb dem Arbeitnehmer auch unter Berücksichtigung seiner Sachnähe zuzumuten, seine Behauptung, es lägen voneinander zu trennende Verhinderungsfälle vor, durch konkreten Vortrag zu den Krankheitsursachen sowie zum Ende bzw. Beginn der jeweiligen Arbeitsunfähigkeit zu konkretisieren und hierfür gegebenenfalls vollen Beweis zu erbringen.“

Praxistipp:

Unter Berufung auf dieses Urteil können Arbeitgeber zukünftig in allen Fällen, in denen Arbeitnehmer während einer längeren ununterbrochenen krankheitsbedingten Fehlzeit eine neue Erstbescheinigung vorlegen, die Zahlung von Entgeltfortzahlung verweigern, sofern seit dem ersten Krankheitstag bereits mehr als sechs Wochen vergangen sind.

Der Arbeitnehmer ist dann gezwungen, seinen behaupteten Anspruch auf Entgeltfortzahlung notfalls gerichtlich durchsetzen. Der Ausgang dieses Prozesses dürfte maßgeblich davon abhängen, ob der Arbeitnehmer durch Zeugenvernahme der bescheinigungsausstellenden Ärzten nachweisen kann, dass im Zeitpunkt des Auftretens der neuen Erkrankung seine Ersterkrankung bereits vollständig ausgenesen gewesen ist.


Ein neuer Online-Dienstleister sorgt derzeit für Schlagzeilen, der Arbeitnehmern die Erteilung einer AU-Bescheinigung gegen Entgelt anbietet, ohne dass hierfür eine vorherige persönliche ärztliche Untersuchung notwendig ist. Wir nehmen für Sie diesen Dienst unter die arbeitsrechtliche Lupe.

Anzeige- und Nachweispflicht im Krankheitsfall

Ist ein Arbeitnehmer arbeitsunfähig erkrankt, treffen ihn die sog. Anzeige- und Nachweispflichten aus dem Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG). Nach § 5 Abs. 1 S. 1 EFZG ist der Arbeitnehmer verpflichtet, dem Arbeitgeber die Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer unverzüglich mitzuteilen (= Anzeigepflicht). Dauert die Arbeitsunfähigkeit länger als drei Kalendertage, hat der Arbeitnehmer spätestens an dem darauffolgenden Arbeitstag dem Arbeitgeber gemäß § 5 Abs. 1 S. 2 EFZG eine sog. Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (kurz: AU-Bescheinigung) vorzulegen (= Nachweispflicht). Der Arbeitgeber ist nach § 5 Abs. 1 S. 3 EFZG aber frei darin, die Vorlage der AU-Bescheinigung auch früher zu verlangen, z.B. bereits ab dem ersten Krankheitstag.

Dienstleistungsangebot AU-Bescheinigung bei Erkältung per Ferndiagnose

Musste sich der Arbeitnehmer bisher in eine Arztpraxis bzw. in ein Krankenhaus begeben, um eine AU-Bescheinigung zu erhalten, so soll dies in Zukunft nicht mehr in allen Fällen einer Erkrankung gelten, wenn man den Aussagen des Online-Dienstleisters www.au-schein.de Glauben schenken will. Denn dieser preist sein Geschäftsmodell auf seiner Website mit folgenden Aussagen an: „Bei Erkältung erhalten Sie für 9,- € eine gültige Krankschreibung vom Tele-Arzt über WhatsApp und per Post. JETZT BESTELLEN“ und weiter Wenn Sie werktags (Mo-Fr) vor 10 Uhr bestellen, versenden wir Ihre AU bis 15 Uhr per WhatsApp & per Post. Anderenfalls am nächsten Werktag (Mo-Fr) bis 15 Uhr. Beginn der AU ist immer das Bestelldatum.“ Bzgl. der Dauer, wie lange ein Arbeitnehmer unter Verwendung des angebotenen Onlineservices krankgeschrieben werden kann, wird Folgendes angeführt: „1 bis 3 Tage. Der Arzt folgt immer Ihrem Wunsch.“

Damit ein Arbeitnehmer über den Online-Dienstleister eine AU-Bescheinigung erhält, muss er aus vorgeschlagenen Symptomen nur die richtigen auswählen und Fragen zu Risikoausschlüssen zutreffend beantworten.

Triebfeder für die Entwicklung dieses neuen Geschäftsmodells ist eine Änderung der (Muster-)Berufsordnung für Ärzte gewesen. Hierdurch wurde der bewährte Grundsatz, dass eine ärztliche Beratung und Untersuchung im persönlichen Kontakt zu erfolgen hat, aufgeweicht. § 7 Abs. 4 der (Muster-)Berufsordnung lautet nunmehr wie folgt:

„Ärztinnen und Ärzte beraten und behandeln Patientinnen und Patienten im persönlichen Kontakt.

Sie können dabei Kommunikationsmedien unterstützend einsetzen.

Eine ausschließliche Beratung oder Behandlung über Kommunikationsmedien ist im Einzelfall erlaubt, wenn dies ärztlich vertretbar ist und die erforderliche ärztliche Sorgfalt insbesondere durch die Art und Weise der Befunderhebung, Beratung, Behandlung sowie Dokumentation gewahrt wird und die Patientin oder der Patient auch über die Besonderheiten der ausschließlichen Beratung und Behandlung über Kommunikationsmedien aufgeklärt wird.“

Aufgrund der Abschaffung des Fernbehandlungsverbotes ist davon auszugehen, dass die unter Verwendung des zuvor dargestellten Onlinedienstes ausgestellten AU-Bescheinigung zumindest in formeller Hinsicht ordnungsgemäß zustande kommen.

Eine andere Frage ist jedoch, ob solche online bestellten AU-Bescheinigungen ebenso gut geeignet sind, eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit nachzuweisen, wie eine klassische AU-Bescheinigung, die auf einer persönlichen ärztlichen Untersuchung beruht.

Beweiswert von „klassischen“ AU-Bescheinigungen

Legt der Arbeitnehmer eine formal ordnungsgemäße AU-Bescheinigung vor, so kommt dieser grundsätzlich ein hoher Beweiswert für das tatsächliche Vorliegen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit zu. Hat ein Arbeitgeber Zweifel an der Richtigkeit einer AU-Bescheinigung, ist es deshalb nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht ausreichend, lediglich zu bestreiten, dass der Arbeitnehmer tatsächliche erkrankt sei.

Der Arbeitgeber muss vielmehr Tatsachen vortragen und notwendigenfalls beweisen, aus denen das Gericht schließen kann, dass der Beweiswert der AU-Bescheinigung erschüttert ist, weil aufgrund der festgestellten Tatsachen ernsthafte Zweifel an der sachlichen Richtigkeit der attestierten krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit bestehen (z.B. Arbeitnehmer hat seine Erkrankung im Vorfeld angekündigt; genesungswidriges Verhalten während Erkrankung; Rückdatierung der AU über drei Tage hinaus etc.).

Erschütterung des Beweiswertes von online bestellten AU-Bescheinigungen

Nach unserer Ansicht ist der Beweiswert von AU-Bescheinigungen, die über das beschriebene Onlineportal bestellt und ausgestellt wurden, von vornherein erschüttert. Dies aus folgenden Gründen:

  • Das Bundesarbeitsgericht stellte bereits mit Urteil vom 11.08.1976 – 5 AZR 422/75 fest, dass ernstliche Zweifel an einer bescheinigten Arbeitsunfähigkeit bestehen, wenn zuvor keine ärztliche Untersuchung erfolgt ist. Wenn man sich den Ablauf des Bestellvorgangs auf www.au-schein.de vor Augen führt, kann man die in diesem Rahmen eingebundene Mitwirkung des verordnungsausstellenden Arztes nicht mehr als Untersuchung im medizinischen Sinne qualifizieren.  Auch bei einer ausschließlich telemedizinischen Untersuchung bestimmt deren Ablauf und Inhalt maßgeblich der Arzt. Beim Online-Dienstleister ist hingegen der bestellende Arbeitnehmer (von einem Patienten wird man wohl kaum reden können) alleine derjenige, der hierüber die Entscheidungen trifft. Denn dieser kann den Fragekatalog beliebig oft durchlaufen, bis er endlich zum gewünschten Erfolg kommt, nämlich seiner Krankschreibung. Kreuzt er im Rahmen seiner Befragung Ausschlusskriterien an, hat dies zur Folge, dass er im Rahmen dieses Bestellvorgangs keine AU-Bescheinigung erhält. Er kann sein Glück jedoch von Neuem versuchen, denn eine Sperrung o.Ä. erfolgt nicht. Auch muss der Besteller bei einem erfolglosen Versuch keine Gebühr in Höhe von 9 EUR bezahlen (vgl. hierzu die sehr gelungene Darstellung im Spiegel unter https://www.spiegel.de/karriere/krankmeldung-per-whatsapp-wie-ich-mich-selbst-als-arbeitsunfaehig-einstufte-a-1260409.html). Zu guter Letzt bestimmt auch allein der Arbeitnehmer über die Dauer der AU-Bescheinigung. Dem Missbrauch ist daher Tor und Tür geöffnet!
  • Auch spricht für eine Erschütterung des Beweiswertes die Regelung des § 275 Abs. 1a Buchstabe b) SGB V. Hiernach können sich Zweifel an einer bescheinigten Arbeitsunfähigkeit insbesondere daraus ergeben, dass diese von einem Arzt festgestellt worden ist, der durch die Häufigkeit der von ihm ausgestellten AU-Bescheinigungen auffällig geworden ist. Dies ist bei den Ärzten des Onlinedienstleisters unzweifelhaft der Fall sein. Aus diesem Grund können Arbeitgeber auf online bestelle AU-Bescheinigungen auch immer mit einer Einschaltung des MDK reagieren.
  • Zudem dürfte die Ausstellung einer AU-Bescheinigung ohne vorherige persönliche ärztliche Untersuchung gegen die sog. Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie des zuständigen Gemeinsamen Bundesausschusses verstoßen. Denn diese schreibt vor, dass bei der Ausstellung einer AU-Bescheinigung der körperliche, geistige und seelische Gesundheitszustand gleichermaßen zu berücksichtigen ist, was nur durch eine persönliche Untersuchung sichergestellt werden kann. Auch ist bei der Beurteilung einer Arbeitsunfähigkeit ausdrücklich darauf abzustellen, welche Bedingungen die berufliche Tätigkeit des betroffenen Arbeitnehmers konkret prägen. Denn die Frage, ob ein Arbeitnehmer arbeitsunfähig erkrankt ist, hängt in rechtlicher Hinsicht maßgeblich von der Art der auszuübenden Tätigkeit ab. Im Widerspruch hierzu spielen die aktuellen Arbeitsbedingungen im Rahmen des Online-Bestellvorgangs jedoch keine Rolle.
  • Zuletzt begründen auch die reißerischen Werbeaussagen des Betreibers („Danke für über 3.000 AU-Scheine und 100% Akzeptanz bei Arbeitgebern & Krankenkassen!“ „Sie sind arbeitsunfähig wegen Erkältung und müssten daher zum Arzt? Hier erhalten Sie Ihre AU-Bescheinigung einfach online per Handy nach hause!“) ernstliche Zweifel an dem Beweiswert der von ihm angebotenen AU-Bescheinigungen. Der Patient verkommt zu einem Besteller, dem gegen Bezahlung eine Leistung mit angeblich 100 % Akzeptanz angeboten wird. Dies hat mit einer ärztlichen Leistung nichts mehr zu tun!

Fazit

Soweit in den FAQ des Onlinedienstleisters zu lesen ist

„Muss mein Arbeitgeber die AU von AU-Schein.de akzeptieren? Die AU besitzt bundesweit Gültigkeit. Ihr Arbeitgeber muss die AU anerkennen.“

trifft dies nach unserer Ansicht nicht zu. Auch scheint der Betreiber des Onlinedienstes von seinem Geschäftsmodell nicht restlos überzeugt zu sein. Denn nach seinen eigenen Angaben auf der Homepage können Arbeitnehmer den Service nur zweimal im Kalenderjahr nutzen.

Arbeitnehmern wird daher nahegelegt, im Falle einer Erkältung den bewährten Hausarzt aufzusuchen.

Arbeitgeber, die zukünftig mit derartigen AU-Bescheinigungen konfrontiert werden, können zum einen den Medizinischen Dienst der Krankenkassen einschalten und zum anderen keine Entgeltfortzahlung leisten.

Jetzt stellt sich für Arbeitgeber nur noch die Frage, wie sie überhaupt erkennen können, ob eine AU-Bescheinigung unter Verwendung des beschriebenen Onlinedienstes zustande gekommen ist.

Die Alarmglocken sollten immer dann angehen, wenn auf der AU-Bescheinigung im Feld Arzt-Nr. „Privatarzt“ angegeben ist und der ausstellende Arzt seinen Sitz in Schleswig-Holstein hat. Denn nach den im Internet kursierenden Informationen arbeitet der Online-Dienstleister bisher nur mit einem oder mehreren Privatärzten aus Schleswig-Holstein zusammen.

Sobald erste arbeitsgerichtliche Entscheidungen bzgl. dieser Thematik vorliegen, werden wir Sie im Rahmen unseres Blogs auf dem Laufenden halten.

Hinweis: Die im Text angegebenen Zitate stammen von der Website www.au-schein.de in der Fassung vom 03.05.2019